LLeseprobe

Leseprobe aus meinem neuen Roman, der im Januar erscheint

Kloster in Italien

DAS GLÜCK UMARMEN

Nne nee ist der nigerianische Name für Großmutter. So wird Marceline, eine der Hauptfiguren und vielleicht der wichtigste Charakter des Romans, von Kio genannt. Kio, Marcelines nigerianisches Pflegekind, das singt wie ein Engel und daher in einem katholischen Kirchenchor landet.

Kio liebte Nne nnes Langspielplatten mit Opernarien, die sie an manchen Abenden auflegte. Zuerst wischte sie mit einem Tuch sorgfältig und langsam die schwarze Oberfläche ab, als wolle sie schon mit den Fingern jede Arie einzeln begrüßen. Dann nahm sie die Schallplatte behutsam mit den Handinnenflächen am äußeren Rand und legte sie auf den Plattenteller. Neben der Musik faszinierte Kio, wie die Nadel die Rillen ertastete, als wolle sie damit die Töne wecken, die gleich darauf den Eindruck vermittelten, als würden sie auferstehen, allein nur um den Raum zu füllen und weit darüber hinaus. Sie zogen Kreise wie das Wasser, nachdem man einen Stein in den See oder den Fluss geworfen hat. Der Stein verschwand. Und irgendwann verschwanden die Töne ebenso wie die Kreise. Das Wasser stand still. Der Plattenteller auch. Am schönsten waren die Abende, an denen sich Nne nne schön machte, als gingen sie in ein Konzert. An diesen Abenden trug sie ein langes, mit Pailletten besetztes Kleid, die im Schein der Stehlampe miteinander um die Wette glitzerten. Das Haar, das bis in den halben Rücken reichte, ließ sie offen, nur von einem Glitzerkamm oder seitlich von einer Rose geschmückt, und die Augen wurden durch schwarzen Kajal zum Leuchtfeuer. Darüber schwangen sich dunklen Augenbrauen wie die Flügel eines Silberreihers. Nne nnes Lippen waren tiefrot, die Wangen mit den hohen Wangenknochen blieben blass.

Manchmal zwickte Kio die Augen zu, bis Nne nne so unscharf wurde, dass die Falten verschwanden und die Haut, die noch immer in einem braunen Goldton schimmerte, glatt wurde. Als junge Frau musste Nne nne sehr schön gewesen sein. An den Abenden, an denen sich Nne nne herausputzte und in ihrem Ohrensessel Platz nahm wie in der ersten Reihe der Oper, in der Kio noch nie gewesen war, an diesen Abenden war Kios Heimweh besonders groß.